Agrarforschung
Effizienzkontrolle von Besucherlenkungsmaßnahmen an naturnahen Fließgewässern am Beispiel der Jagst
B. K. Schmidt, Büro für Tierökologie und Planung, Waldkirch
Mai 1997 - November 1997
Problemstellung
Die mittlere Jagst gehört aufgrund ihrer überwiegend naturnahen Flußmorphologie, Fließdymanik, Ufer- und Wasservegetation zu den ökologisch wertvollsten Flussabschnitten 1. Ordnung des Landes Baden-Württemberg. Mehrere Untersuchungen und Gutachten über Vögel, Libellen und Makrozoobenthon belegen, daß zahlreiche Tierartenvorkommen von landesweiter Bedeutung sind (Gut-achtensammlung BNL Stuttgart).
Aufgrund des landschaftlichen Reizes des Talraums und der Schönheit der Flußaue besitzt die Jagst eine hohe Attraktivität für die Erholungs- und Freizeitnutzung, insbesondere für den Kanu- und Kajakbetrieb. Zählungen und Untersuchungen haben ergeben, daß am Mittellauf der Jagst bis über 3000 Boote, am Unterlauf bis über 5000 Boote im Jahr fahren und dadurch wertbestimmende Tierarten beeinträchtigt werden.
Durch Rechtsverordnungen der Landkreise Heilbronn, Hohenlohekreis und Schwäbisch-Hall wurde 1997 der Gemeingebrauch der Jagst neu geregelt. Kernziel der Regelung ist die Beruhigung und der Schutz der naturschutzfachlich hochwertigsten Fließstrecken, wobei 50% der Fließstrecken für die Freizeitnutzung und Bootsbefahrungen weiterhin nutzbar bleiben.
Für die Fließstrecken der Jagst zwischen Crailsheim und der Mündung bei Bad Wimpfen (133 km Länge) kommen zwei verschiedene Modelle der Besucherlenkung zur Anwendung:
A. Zeitliche Teilsperrung von Flußabschnitten für Bootsbetrieb und Beschränkung anderer Nutzungen. (Landkreis Schwäbisch Hall und Heilbronn, Hohenlohekreis unterstromig von Unterregenbach bis Dörzbach).
Durch das Verbot der Ausübung verschiedener Freizeitnutzungen kann davon ausgegangen werden, daß Störungen in den Sperrabschnitten vermindert sind und der Bruterfolg von wertgebenden wassergebundenen Vogelarten während der Sperrzeit gesichert ist. Befreiungen auf den Sperrabschnitten mindern die Effektivität. Neben dem Bootfahren wurden auch weitere Regelungen zu den anderen Freizeitnutzungsarten im Uferbereich getroffen, diese gelten im Landkreis Heilbronn und im Hohenlohekreis.
B. "Kooperationsmodell" mit Beschränkungen des Bootsbetriebs und anderer Nutzungen (Hohenlohe-kreis von Dörzbach bis Berlichingen).
Das Kooperationsmodell sieht allgemeine Beschränkungen für den Bootsbetrieb vor, die sich auf das Verhalten während der Bootsfahrten beziehen (Benutzung bestimmter Ein- und Ausstiegsstellen, Fahren in der Flußmitte und Einhalten ausreichender Abstände von Steilufern, Schwimmblattzonen, Uferröhrichten und Flußinseln, Verbot von alkoholisierten und lauten Bootsfahrten). Freizeitnutzungen wie Lagern, Zelten und Grillen sind im Außenbereich an der Uferzone und auf Kiesbänken untersagt. Bestimmte Badeplätze werden im Außenbereich zugelassen. Weitere Verhaltensregeln zur Badenutzung und Betreten des Uferbereichs im Außenbereich sehen Beschränkungen dahingehend vor, daß keine Freizeitnutzungen in der Wasserwechselzone unterhalb der Böschungsoberkante stattfinden dürfen. Ausgenommen hiervon sind definierte Badestellen im Außenbereich.
Ziel
Ziel der Untersuchung ist es, die Wirksamkeit des Kooperationsmodells im Hinblick auf den in der Rechtsverordnung definierten Schutzzweck zu überprüfen. Folgender Fragenkatalog wurde bearbeitet:
- In welchem Umfang wird die Verordnung im Hohenlohekreis von den verschiedenen Nutzergruppen beachtet und respektiert?
- Funktioniert das sogenannte "Kooperation-modell" als Besucherlenkungsmaßnahme? Welche Intensitäten der Freizeit- und Erholungsnutzung an der Jagst treten 1997 während des Frühjahrs und des Sommers auf? Vergleich mit 1995 und 1996
- Welche positive Wirksamkeit entfaltet die Verordnung als Instrument der Besucherlenkung im Hinblick auf die schützenswerte Fauna und Flora?
- Wie wirkt sich eine etwaige Minderung von Störreizen aus der Freizeitnutzung auf wertbestimmende wassergebundene Vogelarten aus?
Untersuchungsmethoden
Die Untersuchung umfaßt die Bestandsaufnahme von 10 ausgewählten wasser- und röhrichtgebundenen Vogelarten (ökologischer Aspekt) mit verschiedenen Erfassungs- und Brutüberwachungsmethoden an der mittleren Jagst von Krautheim bis Kloster Schöntal (15,5 km Flußlänge) im Hohenlohekreis. Qualitative und quantitative Detailuntersuchungen zu Störreizen, Reaktionen und Konsequenzen (Störwirkung) wurden durchgeführt. Ebenfalls erfolgt eine Erfassung und Analyse der Freizeitaktivitäten hinsichtlich ihrer zeitlichen und räumlichen Intensität (demographisch-soziologischer Aspekt). Zur Thematik wurde vor Ort eine Videodokumentation erstellt.
Ergebnisse
Die Anzahl der Brutpaare von 10 Vogelarten im Untersuchungsabschnitt zeigt Tabelle1. Für den Teichrohrsänger und den Eisvogel konnte nachgewiesen werden, daß sich Störreize (Tabelle 2) aus Kanubetrieb und Zelten in der Uferzone negativ auf den Brutbestand auswirken. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde die Erstbrut des einzigen Eisvogelbrutpaares im Untersuchungsabschnitt am Pfingstwochenende vom 17.5.-19.5. durch starken Kanubetrieb und Zelten aufgegeben und die drei Wochen alten Jungen starben. Ebenfalls am Pfingstwochenende wurden einzelne anwesende Flußuferläufer in potentiellen Brutbereichen ständig aufgescheucht und dauerhaft vertrieben. Im Vorjahr wurden noch zwei Brutversuche im Juni registriert, die durch Beeinträchtigungen aus der Freizeitnutzung scheiterten
Für die wertgebenden, wassergebundenen Vogelarten - insbesondere Wasseramsel, Flußuferläufer und Eisvogel - entfaltet die Verordnung auch bei Kontrolle und Einhaltung nicht die gewünschte Wirksamkeit hinsichtlich des eigentlichen Schutzzwecks nach §2., da aufgrund der relativ geringen Fluß-breite von 10-15 (20) m die Fluchtdistanz dieser Tierarten immer unterschritten wird und es zwangsläufig zu Störungen im Nestbereich oder während der Nahrungsaufnahme kommt.
Aufgrund der Beobachtungen und Zählungen 1997 ist mit einer Reduktion des Kanubetriebs auf dem untersuchten Jagstabschnitt von etwa 10-20% im Vergleich zum Vorjahr auszugehen. Badebetrieb, Grillen und Lagern erreichte die selben Intensitäten wie im Vorjahr, einer etwas verringerten Angelaktivität steht eine höhere Nutzung der Uferzone durch Zelten gegenüber. Die Badeplatzverordnung wurde in zahlreichen Fällen wissentlich mißachtet. Die mit der Verordnung beabsichtigten positiven Effekte zur Beruhigung und Schonung der Uferzone wurden unter Berücksichtigung aller Nutzungen nicht erreicht
In dem für wassergebundene Brutvögel sehr sensiblen Zeitraum von Mitte Mai bis Anfang Juni, konnte durch mehrtägige Beobachtungsreihen eine massive Beeinträchtigung durch Störreize aus der Freizeitnutzung, insbesondere Kanuberieb und Zelten belegt werden. Spitzenwerte von über 80 Kanus pro Tag wurden ermittelt. Zahlreiche Bootsgruppen zelteten unerlaubt in der Uferzone, darunter auch mehrfach in Naturschutzgebieten
Die im Sommer durchgeführten Niedrigwasserfahrten mit häufigen Grundberührungen und Schleifen der Boote über Flachstellen wirken sich örtlich signifikant negativ auf die Besiedlung von wirbellosen Tieren der Stromsohle aus, wie durch Probeuntersuchungen des Makrozoobenthons (Larven von Eintags-, Köcherfliegen und Libellen) belegt werden kann. Eine Auswertung zeigt, daß ca. 44% (6,8 km) der 15,5 km langen untersuchten Fließstrecke durch Grundberührungen in den Monaten Mai bis August mit dem Bootsrumpf und durch Paddelschläge (Doppel-, oder Stechpaddel) mit Aufwirbeln von Bodensubstrat beeinträchtigt ist.
Konsequenzen für die Praxis
Als Fazit der avifaunistischen Untersuchung ist festzustellen, daß die von der Freizeit- und Erholungsnutzung, insbesondere durch Kanubetrieb ausgehenden Störungen (Kooperationsmodell) für einige Wasservogelarten (insb. Eisvogel und Fluß-uferläufer) erheblich sind und einen nachhaltigen und negativen Einfluß auf den Bruterfolg haben. Die Lebensgemeinschaft der Stromsohle (Makro-zoobenthon) wird an flachen fließenden Streckenabschnitten örtlich stark beeinträchtigt. Aus naturschutzfachlicher Sicht wären folgende zentrale Maßnahmen nötig, um den Schutz der Lebensstätten und der dort lebenden wertbestimmenden Tierarten zu gewährleisten:
- Zeitlich befristete Sperrung der Jagst von Gommerdorf Brücke bis Kloster Schöntal vom 15.2.-15.9.
- Einschränkung der Niedrigwasserfahrten mit häufigen Grundkontakten. Befahrung der Jagst im gesamten Hohenlohekreis nur bei
Wassermengen, die mindestens dem halben Mittelwasserabfluß des Pegels Dörzbach entsprechen.
(½ MQ ca. 5,2 m³/s, ca. 50 cm Pegel). - Beschrankung von einigen Feldwegen, die häufig als Zufahrtswege in die Schutzgebiete oder Flußufer genutzt werden und als "Einfallstore" überwiegend motorisierter Freizeitnutzer dienen (Gommersdorf und Marlach)
- Teilweise Verlegung von Badestellen im Außenbereich an ökologisch hochwertigen Bereichen (Bsp. Bieringen-Westernhausen)
- Kontrolle der Verordnung und Öffentlichkeitsarbeit vor Ort, denn "nur das, was man kennt (versteht), kann man auch schützen (erhalten, entwickeln)"
Die Jagst besitzt einen hohen Erholungs- und Freizeitwert, weshalb die Jagsttalgemeinden ein großes touristisches und wirtschaftliches Interesse daran haben, daß die Jagst für den Bootsverkehr offen bleibt. Derzeit ist die Akzeptanz der Bevölkerung für ein Naturschutzkonzept an der Jagst mit Einschränkungen der Gewässer- und Ufernutzung nur gering vorhanden.
Nach gutachterlicher pragmatischer Einschätzung ist eine effektive Besucherlenkung mit Sperrstrecken für den Bootsbetrieb (50-60% der wertvollsten Flußabschnitte) - mit Akzeptanz und Unterstützung bei Politik und Bevölkerung - mittelfristig nur zu realisieren, wenn gleichzeitig die Entwicklung eines naturverträglichen Fremdenverkehrs in den strukturschwachen Gemeinden vorankommt. Das Kapital und die Ressource des Fremdenverkehrs im Jagsttal ist einzig und allein die naturnahe und reizvolle historisch gewachsene Kulturlandschaft mit einer reichhaltigen Pflanzen- und Tierwelt.
Der Naturerlebnis-Erholungs-Tourismus braucht beides, sowohl großflächige Naturerlebnis- und Naturerfahrungsräume (Aktionsräume), als auch Tabuflächen für den Kultur- und Naturschutz (Restriktionsräume).
Tab.1: Vergleich der Brutsaison 1996 und 1997, Jagst von Krautheim bis Kloster Schöntal
Art |
R.L. Ba-Wü. |
1996 Brutpaare Brutnachweis/ Brutverdacht |
1997 Brutpaare Brutnachweis/ Brutverdacht |
Zu-/Ab-nahme + , -- |
Bemerkungen |
||
Eisvogel |
2 |
2 |
1 |
1 |
- |
-- |
sehr kalter Winter 96/97, und 2 Brutversuche 1997 gescheitert |
Flußuferläufer |
1 |
- |
(2) Versuche |
- |
- |
(--) |
1996 an zwei Stellen Brutversuch gescheitert, 1997 keine Tiere zur Brutzeit anwesend |
Gebirgsstelze |
- |
7 |
1 |
7 |
- |
|
|
Nachtigall |
- |
4 |
1 |
5 |
- |
|
|
Rohrammer |
5 |
4 |
1 |
6 |
- |
+ |
leichte Zunahme |
Stockente* |
- |
11 |
1 |
11 |
- |
|
*Bruten auch abseits der Gewässer, Nach Schlüpfen werden die Dünenjungen auf dem Fluß geführt |
Teichhuhn |
3 |
6 |
- |
5 |
2 |
|
|
Teichrohrsänger |
5 |
20 |
3 |
10 |
- |
-- |
Halbierung des Brutbestandes, mehrere Gründe |
Wasseramsel |
5 |
2 |
- |
1 |
1 |
|
|
Weidenmeise |
3 |
1 |
1 |
1 |
1 |
|
Reviere Marlach bis Gommersdorf |
Tabelle 2: Fallbeispiel Eisvogel: Anthropogene Beeinträchtigungen; Störreize und Reaktionen
Festgestellte Störreize: |
Häufigkeit * |
Vorbeifahren von Booten an Brutwänden (Bruthabitat) mit anwesenden grabenden oder brütenden Eisvögeln, Stromstrich 1-3 m von Uferabbruch entfernt |
>500 |
Schleifen der Boote über Kiesbänke in der Nähe der Brutwand und Lagern am Fluß |
>200 |
Angelstandplätze auf der Steilwand mit Brut |
1 |
Angelstandplätze am gegenüberliegenden Ufer oder in 10-30 m Abstand |
5 |
Mit Wathosen Angeln, vor oder in der Nähe der Steilwand |
1 |
Einschlagen von Weidenknüppeln in die Krone des Uferabbruchs in der Nähe von begonnenen Eisvogel-Grabarbeiten der Höhlen, (Raubsäugern wird der Zugang erleichtert) |
1 |
Aufscheuchen der Eisvögel von überhängenden Ästen am Ufer während der täglichen Fischjagd im Nahrungshabitat durch fahrende Kanus (Flußmethode, Korridormethode S.14). |
24 |
Grillen, Lagern und Zelten von Kanus gegenüber der Steilwand |
1 |
Baden vor der Niströhre in einer Bucht |
2 |
Veränderung der Uferstrukturen durch Tritt, Entfernen von Ästen als Sitzwarte |
1 |
Festgestellte Reaktionen |
Häufigkeit* |
Erhöhte Herzschlagfrequenz, Hormonausschütttung (Laboruntersuchungen anderer Autoren) |
- nicht untersucht- |
Eisvögel fliegen 1-3 km vor dem Boot her, bevor sie umkehren und in ihr Brutrevier zurückfliegen |
16 |
Ausweichen auf Nebengewässer der Jagst aufgrund andauernder Störreize durch Kanuten |
2 |
Verhinderung der Jungenfütterung durch Blockierung der Nestumgebung durch vorbeifahrende Kanus. Fischtragende Elterntiere können die Brutröhre nicht anfliegen und sitzen in der Ufervegetation. Starke Erregung und Warnrufe (Pfiffe). Nach einem Störereignis dauert es nach eigenen Beobachtungen zwischen 4 bis17 min ohne weiteren "Störreiz", bis ein erneuter Anflugversuch unternommen wird. |
18 |
Beunruhigung oder Vertreiben von Altvögeln beim Baden und Säubern des Gefieders nach Jungenfütterung durch Kanus |
3 |
Nach Bootsdurchfahrt und Flucht auf Ast konnte beobachtet werden, daß die Tiere 10-15 min so erregt waren, daß sie keine Fischjagd betrieben |
5 |
Ausweichen der über dem Gewässer fliegenden Eisvögel bei entgegenkommenden Kanus in die Uferzone, überfliegen von Wiesen und Wegen (Gefahr des Unfalltods) |
3 |
Gewöhnungseffekte an Badegäste, Angelstellen, Kanus beim Brutplatz 1997 (an anderer Stelle bei Hohebach 1 Mal bei Zweitbrut im Jahr 1996 belegt) |
0 |
* Beobachtete reale Ereignisse im Beobachtungszeitraum 25.4.-24.8.97, keine Schätzungen!
Literatur
Abschlußbericht November 1997
Fördernde Institution |
Förderkennzeichen |